Zusammenfassung: Die überarbeitete Fassung von Nier Replicant, dem Vorgänger von Nier Automata, ist da, und einmal mehr dürften sich die Geister scheiden. Für den einen ein hoffnungslos veraltetes Rollenspiel, für den anderen eine Storytelling-Offenbarung. Im Test verraten wir euch, warum wir uns in den schrägen Charme des Endzeit-Märchens verliebt haben!
Inhaltsverzeichnis
- Was erwartet uns aus Japan?
- Nicht alles ist wirklich durchdacht
- Und PlatinumGames sah, dass es gut war
- Schuster bleib bei deinen Leisten?
- Video-Trailer zum Playstation Spiel Nier Replicant
- Positive Punkte an Nier Repicant
- Was macht dieses Playstation Spiel so besonders?
- Fazit
Was erwartet uns aus Japan?
Hideo Kojima mit Metal Gear, Hidetaka Miyazaki mit Dark Souls, Fumito Ueda mit Shadow of the Colossus. Wenn die japanische Entwicklerszene eins besonders gut kann, dann ist es, ihren Kreativköpfen bei Herzensprojekten freien Lauf zu lassen. Heraus kommen Spiele, die sicherlich nicht immer den aktuellen AAA-Massengeschmack befriedigen, die dafür aber mit der vielleicht wichtigsten Zutat eines Kultklassikers punkten können – Seele. Eine Eigenschaft, die auch die Werke des Drakengard- und Nier-Directors Yoko Taro seit jeher zu unkonventionellen Liebhaberspielen macht.
In genau diese Kerbe schlägt auch sein drittes Spiel, Nier Replicant, der seinerzeit bei der Kritik durchgefallene Vorgänger des Überraschungshits Nier Automata. Eine Konsolengeneration später gibt die Remaster-Maschine Square Enix dem Titel nun eine wohlverdiente zweite Chance. Hat sich das Aschenputtel von einst mittlerweile in Dornröschen verwandelt?
Nicht alles ist wirklich durchdacht
Schon der Einstieg in Replicant weckt jedenfalls erste Märchen-Assoziationen. Kamerafahrten zeigen eine eingeschneite Großstadt, in der die Welt offenbar vor kurzem den Löffel abgab. Inmitten eines verwüsteten Ladens kauert ein Junge mit einem Eisenrohr auf dem Boden. Plötzlich flüstert ihm ein auf dem Boden liegendes Buch Machtversprechen zu, würde er es bloß berühren. Er täte gut daran, dem Grusel-Wälzer Folge zu leisten, schließlich liegt ein Regal weiter seine ausgemergelte Schwester auf dem Boden, und das Geschäft wurde soeben von einer Horde Schattenwesen gestürmt!
Ihr übernehmt die Kontrolle über den namenlosen Jungen und merkt schnell, dass in dieser Welt irgendetwas so gar nicht mit rechten Dingen zugeht. Die eigentlich nur aus schwarzen Fetzen bestehenden Feinde vergießen literweise Blut, beschießen euch mit bunten Kugelwellen in Shoot-'em-Up-Manier und geben unheimliche, verzerrte Laute von sich.
Für noch mehr Verwirrung sorgt dann eine Texteinblendung, die das Geschehen ins Jahr 2053 datiert. Sommer 2053. Und dass es hier im Sommer schneit, ist nur die Spitze des mysteriösen Eisbergs.
Das eigentliche Open-World-JRPG, auf das ihr euch mit Nier (jetzt kaufen 54,99 € ) Replicant einlasst, beginnt dann über tausend Jahre später in einem mittelalterlichen Dorf, das den selbst gewählten Namen eures Protagonisten trägt. Warum euer weißhaariger Jüngling immer noch so aussieht, wie ein Millennium zuvor, solltet ihr tunlichst selbst herausfinden. Nier Replicant brilliert nämlich, wie sein chronologischer Nachfolger, in einem Punkt ganz besonders: in haarsträubenden Plottwists, die euch mitten auf die Zwölf treffen. Oder gerne auch mitten ins Gefühl.
Die Prämisse bleibt dabei jedoch, wie auch der spielerische Unterbau, denkbar simpel. Eure Schwester ist an der Runenpest erkrankt, schwarze Hieroglyphen schlängeln sich über ihren geschwächten Körper, und ihr sollt ein Heilmittel finden. Dazu erkundet ihr verschiedene Zonen der kleinen Spielwelt, wagt euch in schlauchige Dungeons vor und bekämpft jede Menge Schattenmonster, die dem letzten Fitzelchen Menschheit auf der Erde gehörig zu schaffen machen.
Und PlatinumGames sah, dass es gut war
Bei der Überarbeitung des im Original etwas steifen Kampfsystems haben die Mädels und Jungs von ToyLogic absolut solide Arbeit geleistet: Geschmeidig, griffig und sauber animiert metzelt ihr euch mit drei Waffenklassen durch die Schattenhorden. Als junger Protagonist könnt ihr zunächst nur mit Einhandwaffen ran, in der zweiten Spielhälfte dürft ihr das Erwachsensein dann mit riesigen Schwertern und Speeren zelebrieren.
Wer sich schon mit den attraktiven Androiden durch Automata geschnetzelt hat, findet sich mit der Replicant-Steuerung schnell zurecht. Neben leichten und schweren Angriffen lassen sich Ausweichrollen, Uppercuts und Attacken aus und in der Luft intuitiv verbinden. Der stilistische Einfluss der Hack&Slay-Meister von PlatinumGames ist deutlich spürbar, dementsprechend sind die Kämpfe durchgehend unterhaltsam, effektreich und hübsch anzusehen.
Allzu viele verschiedene Kombos oder eklatante Unterschiede in der Funktion der Waffengattungen dürft ihr jedoch nicht erwarten, die mechanische Tiefe eines Bayonetta oder Devil May Cry erreicht Replicant nicht. Was die blutigen Scharmützel hingegen ordentlich aufpeppt, sind die Magieangriffe, die ihr den Schatten mithilfe eures Begleiters Grimoire Weiss um die Ohren haut. Der sprechende Schmöker kann etwa zielsuchende Lanzen, ein magisches Maschinengewehr, Riesenfäuste oder einen Vortex entfesseln, der feindliche Geschosse einsaugt und sie dann als Laserstrahl zurückreflektiert.
Apropos Geschosse: Vor allem in den imposanten Bosskämpfen verwandelt sich Nier gerne in eine Art dreidimensionalen Bullet-Hell-Shooter mit Kugelmustern, die es zu lernen und auszumanövrieren gilt. Im Gegensatz zu Automata halten sich tatsächliche Shoot'Em-Up-Passagen jedoch in Grenzen, die Gameplay-Wundertüte ist hier noch nicht ganz so vollgestopft.
Schuster bleib bei deinen Leisten?
Daraus ergibt sich der größte Knackpunkt des Titels, der sich auch in der Neuauflage kaum wegdiskutieren lässt: Nier Replicant ist und bleibt, verglichen mit Automata, ein spielerisch eher zurückgefahrener Titel, dem man seine hohen Ambitionen bei niedrigem Budget teils deutlich ansieht. Die Open World wirkt beispielweise wie eine hastig eingebaute Marketing-Maßnahme. Sie ist winzig klein und abseits der Schatten-Horden sowie einiger Schafe und Wildschweine recht trist und leblos, sodass ihr im Verlauf der etwa 40-stündigen Hauptstory nicht nur ständig dieselben Gebiete durchquert, sondern auf euren Reisen auch kaum Neuem begegnet. Wenig besser verhält es sich mit den Nebenquests, in denen euch die Bewohner der kleinen Ortschaften größtenteils auf stupide Sammelmissionen schicken.
Meist mit einer fadenscheinigen Ausrede, die kaschieren soll, dass sie sich selbst schlicht zu bequem sind. Verständlich! Zehn Schafe zu töten, zehn Blumen zu pflanzen oder zehn Fische zu fangen dürfte bei niemandem große Begeisterungsstürme auslösen, vor allem, da Letzteres mit einem schlecht erklärten, frustrierenden Minispiel einhergeht. Wer auf den schnöden Mammon pfeift, der am Ende der Quests als Belohnung winkt, lässt die optionale Arbeit einfach links liegen. Oder, noch besser, ihr sucht eine Liste der wenigen tatsächlich lohnenden Nebenquests heraus, die neue Waffen oder spannende Story-Schnipsel bereithalten.
Video-Trailer zum Playstation Spiel Nier Replicant
Positive Punkte an Nier Repicant
Und damit wären wir wieder bei dem Grund, warum dieses äußerlich unspektakuläre, überambitionierte Rollenspiel dann doch so viel mehr ist, als es zunächst vorgibt: Nier Replicant spinnt eine derart schräge, melancholische und erschütternde Geschichte, dass seine vielen Design-Patzer und Unzulänglichkeiten letztendlich gar nicht mehr so wichtig erscheinen. Einen großen Teil der erzählerischen Last tragen dabei die markigen, liebenswerten Charaktere, die ihr in der ersten Hälfte des Spiels am Wegesrand aufgabelt. Grimoire Weiss, eurem sprechenden Sidekick in Buchform, begegnet ihr schon nach wenigen Stunden.
Ab dann dürft ihr immer wieder über die hervorragend eingesprochenen, charmant-überheblichen Kommentare schmunzeln, mit denen der Wälzer auch die dutzendste Sammelquest noch amüsant begleitet. Sein Gegenpart ist die burschikose Kainé, deren Vokabular sich hauptsächlich aus F- und S-Wörtern zusammensetzt, die sie Freund und Feind ebenfalls großartig vertont an die Köpfe wirft.
Die große Kunst des Spiels liegt auch hier wieder darin, dass sich hinter ihrem vermeintlich schnell durchschauten Äußeren eine bewegende, emotionale Geschichte verbirgt. Selbiges gilt für den magischen Begleiter Emil, euren Protagonisten, sämtliche Bossgegner des Spiels und die beiden Zwillinge Devola und Popola, die nicht nur für viele Quests, sondern auch für die tolle Hintergrundmelodie in eurem Dorf verantwortlich sind.
Was macht dieses Playstation Spiel so besonders?
Der von Emi Evans in einer erfundenen Sprache gesungene "Song of the Ancients" ist nur einer von vielen ganz großen Würfen des Komponisten Keiichi Okabe, der euch nach dem Durchspielen nicht mehr aus dem Kopf gehen wird. Ruhig, sanft, düster, melancholisch und epochal: Der Soundtrack zieht alle Gefühls-Register, zudem wurden die Stücke im Remaster neu eingespielt und gefallen mit höherer Produktionsqualität und kräftigerem Klang.
Dass sich hingegen an der optischen Tristesse der Spielwelt, Matschtexturen, detailarmen Bewohnern und dem streng linearen Aufbau der Dungeons auch in der Neuauflage kaum etwas geändert hat, sorgt eher für Unverständnis. Replicant repliziert optisch eher ein sehr frühes PS4-Spiel, und das auch nur dann, wenn man ein Auge zudrückt.
Weiterhin müsst ihr dem Titel also spielerisch und technisch so manches verzeihen, werdet dafür aber mit einer einzigartigen Erfahrung belohnt, die von Story, Charakteren, Atmosphäre und Musik in erstaunliche Höhen getragen wird. Neueinsteiger müssen im Vergleich zu Automata zwar spielerische Abstriche machen und Kenner des Originals müssen lange spielen, um neue Story-Inhalte zu erleben, aber für beide Seiten lohnt sich der Kauf letztendlich. Ein Spiel mit so viel eigenwilligem Charme erscheint nicht alle Tage!
Fazit
Auch als Fan des Originals war ich anfangs etwas enttäuscht von Nier Replicant Version √1,5. Ja, der grafische Generationensprung ist geglückt, aber eher von der PS2 auf die PS3. Die meisten Nebenquests wären sogar für ein Gratis-MMO zu stupide. Und dass es für eine interessante Open World offenbar noch immer hinten und vorne nicht gereicht hat, stößt ebenfalls sauer auf. Aber habe ich dann mein Zauber-Repertoire aufgestockt, das spaßige Kampfsystem verinnerlicht und gelernt, welche Aufgaben sich lohnen. So kommt schnell ein sehr unterhaltsamer Gameplay-Flow auf, der mich durch die vielen Durchgänge trägt, die mir das Spiel abverlangt. Und dann passieren sie eben, diese einzigartigen Nier-Momente, die mich immer wieder aufs Neue begeistert, bestürzt, verstört und voller Vorfreude auf den nächsten Story-Schnipsel zurücklassen. Nier Replicant bleibt ein Spiel, das man mögen muss – aber gibt man ihm genug Zeit, dann kann man eigentlich auch gar nicht anders.